Eine 15jährige Jugendliche wird im Dezember 2012 in Berlin von einer einfahrenden U-Bahn erfasst und stirbt kurz darauf im Krankenhaus. War es ein Unfall oder hat das Mädchen Suizid begangen? Das beschäftigt die Eltern und sie erhoffen sich Hinweise auf dem Facebook-Profil ihrer Tochter zu finden. Doch selbst mit den vorhandenen Zugangsdaten können sie sich nicht in den Account einloggen, denn ein unbekannter Dritter hat bereits veranlasst, dass das Profil in den Gedenkstatus versetzt wurde. Das Profil ist quasi eingefroren, ein Blick in den Account ist nicht mehr möglich. Daraufhin verklagt die Mutter Facebook auf Zugang zu den Daten. Das Urteil, jetzt in zweiter Instanz, löst notwendige Diskussionen aus.


Warum das Gerichtsverfahren so wichtig ist

In der ersten Instanz hatte das Landgericht Berlin im Dezember 2015 entschieden, dass Facebook den Eltern Zugang zu dem vollständigen Benutzerkonto ihrer verstorbenen Tochter und den darin enthaltenen Kommunikationsinhalten gewähren muss. Facebook ging in Berufung. Das Berliner Kammergericht entschied jetzt in der zweiten Instanz gegen die Kläger, Facebook bekam Recht zugesprochen.

Am 31. Mai 2017 veröffentlichte das Landgericht Berlin das Urteil. Am gleichen Tag flutete eine Welle der Berichterstattung durch das Internet, unzählige Zeitungen berichteten, Radiosender strahlten kurze Interviews mit diversen Expertinnen und Experten aus, das Urteil schaffte es bis in die Nachrichtensendungen. Der Fall der Berliner Jugendlichen ist der vorläufige Höhepunkt der medialen Vermittlung des Themas Digitaler Nachlass. Wobei die Frage, ob das Soziale Netzwerk Facebook den Erben Zugriff auf das Nutzerkonto einer verstorbenen Person gewähren muss, nur ein Aspekt des Themas unter vielen ist. Seit der Urteilsverkündung ist ein Monat vergangen. Zeit für eine Nachlese zur Diskussion um dieses Urteil. Eines ist klar: das mediale Interesse spiegelt die hohe gesellschaftliche Relevanz dieses Gerichtsverfahrens.

Gleichzeitig schwirrt einem der Kopf, wenn man versucht etwas tiefer in die Materie einzusteigen. Gespickt sind die rechtlichen Begriffe mit vielen Paragraphen, die wir hier der Einfachheit halber weglassen. Es seien nur einige Stichworte genannt: Aus dem Erbrecht stammen die Begriffe Gesamtrechtsnachfolge und übergegangener Nutzungsvertrag. Mal wird zwischen vermögensrechtlichen und nicht-vermögensrechtlichen Teilen unterschieden, mal wird diese Unterscheidung abgelehnt, da sie in Bezug auf den digitalen Nachlass völlig unpraktikabel sei. Die Personenbezogenheit des Nutzungsvertrags wird diskutiert, ebenso die Art der vertraglichen Bindung. Ist ein Facebook-Account wie eine nicht übertragbare Mitgliedschaft zu behandeln? Welchen Inhalt und Stellenwert haben die Nutzungsbedingungen von Facebook? Die Betroffene ist Deutsche und hat Facebook von Deutschland aus genutzt, der Unternehmenssitz von Facebook in Europa ist Irland. Welches Datenschutzrecht ist anzuwenden, das deutsche oder das irische? Wie sieht es mit dem postmortalen Persönlichkeitsrecht aus, dessen Sachwalter die Erziehungsberechtigten sind? (Im Einzelnen im Urteil vom 31.5.2017 nachzulesen.)

Viele Kommentare zeugen von Unkenntnis

Berichterstattung in den Medien steht immer vor der Aufgabe, einen komplizierten Sachverhalt in den Verständnishorizont von Nichtfachleuten zu vermitteln. Ein Großteil der Meldungen beschränkte sich demnach auf das Ergebnis in zweiter Instanz: Facebook darf Mutter den Zugriff auf das Profil und damit auf den Chat der toten Tochter verweigern, begründet mit dem Fernmeldegeheimnis. Die Kommentare unter den Artikeln gleiten regelmäßig in Beiträge zu “Facbook im Allgemeinen” und “das Internet im Besonderen” ab, worüber die man sich angesichts der Komplexität des Themas nicht zu wundern braucht.

Der David gegen Goliath Effekt

“Facebook schert sich selbst ansonsten wenig um Datenschutz." “Warum löscht Facebook nicht einfach die Profile verstorbener Menschen. Mit dem Gedenkzustand wollen sie nur erreichen, dass andere sich für das Gedenken einloggen und dann für die Werbekunden erreichbar sind.” Stimmen wie diese hört man auch in der Diskussion um das Urteil. Kritiker des Geschäftsgebahrens von Facebook identifizieren sich mit den Klägern und hoffen, dass es wie in der biblischen Geschichte ausgeht: im Zweikampf besiegt der junge David mit einer Steinschleuder einen bis unter die Zähne bewaffneten Krieger der feindlichen Philister.

Die emotionale und die finanzielle Belastung liegt bei den Eltern. Im Facebook-Konzern trauert man nicht um die verstorbene Nutzerin, ein solches Verfahren wird aus der Portokasse bezahlt. Die Kläger dagegen gehen ein hohes finanzielles Risiko ein, wenn sie jetzt aus dem Klageprozess aussteigen oder auch in letzter Instanz verlieren. Die emotionale Belastung ist immens. Was bedeutet es für die Eltern, sich einem Gerichtsverfahren auszusetzen, das dreieinhalb Jahre nach dem Tod des Kindes immer noch nicht zum Abschluss gekommen ist? Wie beeinflusst es ihre Trauer?

Hohe Emotionalität

Egal ob Unfall oder Suizid, wenn ein junger Mensch auf diese Weise stirbt, schreckt die Nachricht andere Menschen auf. Jeder, der selbst ein Kind hat, identifiziert sich schnell mit dem Geschehen. Die Vorstellung, ein Kind zu verlieren, löst Ängste aus. Man fragt sich, wie man selbst handeln würde. Mit ihrem Interesse an diesem tragischen Fall, nehmen Menschen innerlich eine Situation vorweg, in die sie nie geraten wollen.

Eltern sehen sich ständig dem Vorwurf ausgesetzt, dass sie ihren Kindern keine Medienkompetenz vermitteln würden. Die Vermittlung findet aber nur statt, wenn es Gespräche und Vereinbarungen gibt, dass Eltern Zugang zur Onlinenutzung ihrer minderjährigen Kinder haben. Selbst wenn die Eltern in der höchsten Instanz Recht bekommen und Einblick in den Facebook-Chat ihrer Tochter nehmen können, ist damit noch nicht garantiert, dass sie dort tatsächlich die Hinweise finden, die sie sich erhoffen. So viel eingesetzt, am Ende vielleicht für nichts? Wie gehen die Eltern mit dieser Ungewissheit um?

Endet dieses Sorgerecht mit dem Tod des Kindes? Was ist mit Haftungsfragen? Die Haftung scheint mit dem Tod nicht zu enden, denn ein interessanter Seitenstrang des vorliegenden Falles ist, dass der U-Bahn-Führer die Eltern auf die Zahlung von Schmerzensgeld verklagt hat. Auch hier würde es wohl einen Unterschied machen, ob es ein Suizid oder ein Unfall war.

Wir warten auf die nächste Instanz

Wenn alles ganz einfach wäre, dann würden nicht zwei Gerichte zu einem gegensätzlichen Urteil kommen. Sie gewichten die einzelnen Argumente einfach anders. Digitale und analoge Welt passen hier noch nicht zusammen. Rechtlich eindeutig ist: Briefe, die sich im Nachlass befinden, dürfen von den Erben gelesen werden. Sie dürfen auch den elektronisch gespeicherten Schriftverkehr lesen, der auf dem geerbten Computer gespeichert ist. Das Fernmeldegeheimnis führt in diesem Fall einzig aus dem Grund zur Ablehnung der Klage der Eltern, weil sich die Daten auf dem Server eines privaten Diensteanbieters befinden. Die Revision ist zugelassen, weil es um eine grundlegende Rechtsfrage geht, deren Bedeutung weit über den konkreten Fall hinausgeht. Ob die angeführte Berufung auf das Fernmeldegeheimnis als Abgrenzung ausreicht, wird der Bundesgerichthof zu entscheiden haben.

Der Gesetzgeber muss die gesetzlichen Regelungen dem digitalen Zeitalter anpassen

Der Kern der Auseinandersetzung ist das ungeklärte Verhältnis von Erbrecht und dem Fernmeldegeheimnis. Das Kammergericht setzte den Fokus auf das Fernmeldegeheimnis und ließ eine Entscheidung über die generelle Vererbbarkeit von Onlinekonten offen. Der Deutsche Anwaltverein sieht nun den Gesetzgeber in der Pflicht, mit einer Änderung des Telekommunikationsgesetzes für Klarheit zu sorgen. Das Gesetz wurde ursprünglich für Telefonanrufe geschaffen. Der Schutz der Kommunikation ist in Art. 10 Grundgesetz verankert, hat also objektiv einen hohen Wert. Auf dieser Grundlage wurde in einem anderen Verfahren entschieden, das sich das Fernmeldegeheimnis auch auf E-Mails bezieht, die auf dem Server eines Provider gespeichert sind. Wobei in der Praxis einige Freemail-Anbieter den Erben dennoch Zugang gewähren.

Facebook gibt Regeln vor, die das Dilemma erst auslösen

Jeder kann bei Facebook eine Person als verstorben melden. Eine Sterbeurkunde (die nur die Angehörigen besitzen) als Nachweis, ist nur optional. Ein Link auf einen Nachruf oder “ein anderes Dokument zum Tod der Person” reicht aus. Damit sind die nächsten Angehörigen ausgehebelt, selbst wenn sie, wie in diesem Fall, die Zugangsdaten ihrer minderjährigen Tochter und deren Zustimmung hatten, sich einzuloggen.
Das Gedenken findet nach den Regeln von Facebook statt. Selbst mit der neu eingerichteten Funktion eines definierten Nachlasskontakts, bleibt der Zugriff auf das Profil auf einige wenige Funktionen beschränkt.

Transparente Standards bei der Abmeldung von Onlinekonten nötig

Das Internet ist unendlich vielfältig. Dennoch gibt es im Falle des Todes eines Menschen einen recht überschaubaren Katalog von Fragen. Die gesellschaftliche Diskussion steht hier erst ganz am Anfang. Es wird noch Jahre dauern, bis sich Menschen durch alle Instanzen geklagt haben, wenn sie ein anderes Interesse verfolgen als es die teils willkürlichen Regelungen der Internetanbieter vorsehen. Viel einfacher wäre es, wenn sich Anbieter und Expertinnen und Experten zusammentun, um nachvollziehbare und geregelte Prozesse zu entwickeln, die neben den Interessen der Unternehmen vor allem die Interessen der betroffenen Menschen im Blick haben.