Technologien verändern das Leben. Wir leisten heute in der gleichen Zeit wesentlich mehr als frühere Generationen. Doch der Druck, ständig erreichbar zu sein, der Anspruch, in kurzer Zeit zu reagieren, bewirkt bei vielen einen enormen Stress. Als Gegenmittel wird Achtsamkeit empfohlen. Was ist damit gemeint? Und hilft sie auch bei digitalem Stress?


Das Leben hat sich beschleunigt, beruflich wie privat. Die persönlichen Freiheiten und Möglichkeiten sind die eine Seite der Medaille. Die andere Seite ist der Stress, den dieser Leistungsanspruch auslöst. Techniken der Achtsamkeit können eine Orientierung geben, was wirklich wichtig ist. Sie helfen mit diesen Anforderungen besser zurechtzukommen.

Wer auf die digitalen Technologien verzichtet, um dem Druck auszuweichen, verzichtet gleichzeitig auf hilfreiche Arbeitsmittel. Wer mit Achtsamkeit die Wahrnehmung schärft, ist in der Lage souverän die besten digitalen Werkzeuge auszuwählen und so zu Ruhe und Gelassenheit inmitten eines turbulenten Arbeitsalltags zu finden.

Stressbewältigung durch Achtsamkeit

Das Training „Stressbewältigung durch Achtsamkeit“ (Mindfulness Based Stress Reduction, MBSR) wurde ursprünglich von Prof. Jon Kabat-Zinn konzipiert. Er behandelte in den USA schon in den späten 1970er Jahren im Rahmen eines achtwöchigen Programms Menschen, die an chronischen körperlichen Erkrankungen litten.

Elemente des Programms wurden in verschiedenen Therapierichtungen aufgenommen. Heute nutzen viele Menschen seine Techniken, um stressbedingten Erkrankungen vorzubeugen und insgesamt ein bewussteres und erfüllteres Leben zu führen. In vielen Städten sind Zentren entstanden in denen MBSR-Techniken erlernt werden können. Sie beruhen auf Erfahrungen mit buddhistischer Meditation, sind aber grundsätzlich weltanschaulich neutral und frei von religiösen und rituellen Praktiken.

Die Auswirkungen einer regelmäßigen Achtsamkeitspraxis sind gut erforscht:

  • Stressabbau - Studien zeigen, dass das Üben von Achtsamkeit Stress reduziert.
  • Positive Veränderungen im Gehirn - in der Folge altert das Gehirn langsamer, man ist aufmerksamer und hat eine höhere Gedächtnisleistung.
  • Steigerung des kreativen Denkens - Achtsamkeitsmeditation unterstützt das Gehirn, Emotionen zu steuern und fördert so kreatives, strategisches und visionäres Denken.
  • Wirksam gegen Depressionen - Forscher fanden heraus, dass Achtsamkeitsmeditation bei Depressionen und Angststörungen genauso wirksam ist wie kognitive Verhaltenstherapie.
  • Positive Auswirkungen auf chronische Schmerzen - Meditation mit fokussierter Aufmerksamkeit kann die empfundene Schmerzintensität um bis zu 40 Prozent senken.
  • Besserer Schlaf - Menschen können besser mit Gedanken und Ablenkungen umgehen, die häufig am Einschlafen hindern.
  • Mehr Zufriedenheit in der Beziehung - Achtsamkeit kann vor  emotional belastenden Auswirkungen von Beziehungskonflikten schützen und befähigt Menschen, sich in sozialen Situationen besser auszudrücken.

Die Vermessung der digitalen Welt

Technologien durchdringen unser Leben mehr und mehr. Als durch das Coronavirus das wirtschaftliche und öffentliche Leben in großen Teilen lahmgelegt wurde, stieg die Internetnutzung messbar rasant an. Der Datenverkehr hat sich vervielfacht. Zwei Beispiele: der bis dahin relativ unbekannte Videochat-Anbieter Zoom hat innerhalb von vier Monaten ein Wachstum von 2.900 Prozent hingelegt. Netflix hat im ersten Quartal 15,8 Millionen neue Abonnenten gewonnen.

Wir nutzen digitale Techniken nicht mehr nur ab und zu für bestimmte Aufgaben, sondern wechseln täglich ununterbrochen zwischen analoger und digitaler Welt hin und her. Fast unbemerkt wachsen Menschen in veränderte Verhaltensweisen und Kommunikationsformen hinein. Achtsamkeit betrifft alle Bereiche des Lebens. Achtsame Kommunikation unterscheidet nicht zwischen online und offline.

Self statt Selfie - die neue digitale Achtsamkeit

Seit es Smartphones gibt, lässt die Kritik an verändertem Verhalten von Menschen nicht nach. “Vom Selbst zum Selfie: Eine Kritik zeitgenössischer Formen der Entfremdung” - so lautet ein Buchtitel (deutsche Übersetzung). Mit Selfies zeigen sich Menschen so, wie sie von den anderen gesehen werden wollen. Es geht darum, wer sie sind und wer sie sein wollen. Menschen haben sich schon immer diese Fragen gestellt, haben sich mitgeteilt, sich und andere interpretiert. Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit spielt eine Rolle, zusammen mit dem Wunsch, als einzigartiger Mensch wahrgenommen zu werden.

Jenseits des Vorwurfs, dass Selfies dem Narzissmus dienen, sind Selfies  eine moderne Form der Selbstvergewisserung. Es spricht also grundsätzlich nichts dagegen, Bilder von sich selbst zu machen und zu veröffentlichen. Wer achtsam durch das Leben geht, hat vielleicht weniger das Bedürfnis, den Arm auszustrecken und ihn mit einem Selfiestick zu verlängern. Er wird vermutlich auf verändernde Filter verzichten, wobei selbst Beleuchtung und Farbgebung den Ausdruck eines Bildes formen. Achtsamkeit wirkt der Entfremdung von sich selbst entgegen. Das Selbst kann sich auch in Bildern ausdrücken.

Achtsamkeitspraxis hilft im digitalen Wandel

Wer sich eine achtsame Haltung zu eigen gemacht hat, kann die eigene Verfügbarkeit steuern. Er nimmt die Impulse wahr, die in die Ablenkung führen. Die Fähigkeit, dem Sog des Digitalen zu widerstehen, jede neue Entwicklung mitzumachen oder sich unzählige überflüssige Apps auf das Smartphone zu laden, wächst mit dem Bewusstsein, dass alle digitalen Technologien nur Hilfsmittel sind. Sie sind nützlich. Sie können das Leben einfacher und schöner machen. Man kann sie nutzen, die Arbeit besser zu organisieren und effizienter zu arbeiten. Achtsamkeit führt zu einem maßvollen und menschlichen Umgang mit den digitalen Möglichkeiten.

Techniken der Achtsamkeit

Es lohnt sich also, sich die Zeit zu nehmen für die wenigen einfachen Techniken:

  • Die Aufmerksamkeit bewusst auf den gegenwärtigen Moment lenken, auf eine Sache, eine Empfindung oder einen Gedanken. Multitasking - also die Fähigkeit mehrere Prozesse parallel auszuführen - kann man den digitalen Anwendungen überlassen. Der Eindruck der Gleichzeitigkeit entsteht, weil die verschiedenen Prozesse in sehr kurzen Abständen immer abwechselnd aktiviert werden. Beim Menschen führt das in die Zerstreuung.
  • Das Wahrgenommene für sich stehen lassen, ohne ihm eine Bedeutung zu geben oder es zu interpretieren. Meditation ist nichts anderes als Versinken in den Moment, ohne geistige Ausflüge in die Vergangenheit oder Zukunft.
  • Mitgefühl für sich selbst und mit anderen entwickeln. Es ist normal, dass Gedanken kommen und Menschen sich und andere innerlich bewerten. Mit dieser Erfahrung kann man sich anfreunden, man lässt sich nicht davon ablenken und kehrt mit freundlicher Aufmerksamkeit wieder zum gegenwärtigen Moment zurück.

Wer diese Haltung regelmäßig übt, lebt stressfreier und findet quasi automatisch zu einem neuen Umgang mit dem Digitalen. Er wird digitale Hilfsmittel für sich nutzen können, ohne sich in ihnen zu verlieren.