Die Statistiken sind eindeutig, die Coronakrise erhöht den Stress. Die Anfragen bei Psychotherapeuten nehmen zu. Bei manchen ist die allgemeine Verunsicherung, bei Bestatterinnen und Bestatter sind es eher die zusätzlichen Belastungen, die den Stresspegel erhöhen. Wie gelingt es, mit den erhöhten Anforderungen umzugehen und nicht selbst auszubrennen?
Erleben und Bewerten von Stress
Bereits in den 1980er Jahren hat der Stressforscher Hans Selye darauf hingewiesen, dass Stress nicht per se negativ ist. Zwei Arten von Stress seien zu unterscheiden: der positive Eustress (griech. “Eu” gleich gut, also guter Stress) und der negative Distress (griech. "Di" bedeutet “Un”, also negativer Stress). Auf jeden Auslöser für Stress reagiert der Mensch mit einer Anpassungsreaktion. Das ist im Sinne des Eustress die Aktivierung zusätzlicher Kräfte, verbesserte Motivation und Entwicklung der Persönlichkeit. Statt auf das Problem zu fokussieren, richtet sich die Energie auf die Problemlösung.
Spätere Forschungen der US-Psychologen Lazarus und Folkman haben ergeben, dass die Bewertung des Stresses und die daraus folgende Stressreaktion sehr davon abhängt, ob die Situation wirklich gefährlich oder nur unangenehm ist. Ein zweiter Faktor betrifft die Frage, ob eine Person die Situation beeinflussen kann. In diesem Fall wird die Situation zu einer Herausforderung, die - wenn sie bewältigt wird - dazu führt, dass ein Mensch gestärkt aus der Situation hervorgeht. Dieses Erleben der Selbstwirksamkeit lässt Menschen gelassener werden im Umgang mit neuen stressauslösenden Faktoren.
Unterscheidung von akutem und chronischen Stress
Die Krise, die durch das Coronavirus die ganze Gesellschaft erfasst hat, stellt für die psychische Gesundheit eine erhebliche Herausforderung dar. Je länger es dauert, desto mehr sind die Menschen in einer Art Daueranspannung. Schon der Forscher Hans Selye hat betont, dass auf jede Anspannungs- eine Entspannungsphase folgen muss.
Nur bei ausreichender Erholung kann die notwendige Balance zwischen Ruhe und Erregung gefunden werden. Nehmen die Stressfaktoren nicht wieder ab oder kommen zusätzliche Stressoren hinzu, wächst das Erregungsniveau weiter an. Aus einer akuten Stresssituation wird chronischer Stress. Ist ein Mensch ständig Phasen erhöhter Aktiviertheit ausgesetzt, kann es zu ernsthaften Langzeitschädigungen kommen. Chronischer Stress muss aber nicht immer krank machen. Entscheidend für die Auswirkungen von Stress ist nach neuesten Forschungen, wie ein Mensch über den Stress denkt. So lautet der Titel des Buches der Psychologin Alia Crum: Rethinking Stress. - “Stress neu denken: Die Rolle von Denkweisen bei der Ausprägung der Stressreaktion.”
Fürsorgepflicht für das eigene Team
Das sollte aber nicht dazu führen, dass man seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern nahelegt, einfach anders über Stress zu denken und die äußeren Rahmenbedingungen außer Acht lässt. Es ist kein Freibrief dafür, sich selbst oder dem Team unnötig hohem Stress auszusetzen. Wer unter Stress leidet, braucht Entlastung und keine Vorwürfe, dass er besser lernen müsste mit dem Stress umzugehen. Das Zusammenspiel von außen und innen bedeutet, die äußeren Stressfaktoren zu minimieren und gleichzeitig Hilfen an die Hand zu geben, mit dem Stress besser umgehen zu können.
Äußere Stressfaktoren in der Corona-Pandemie sind die Ansteckungsgefahr durch das Virus und die Unwägbarkeit eines Krankheitsverlaufs, wenn man sich angesteckt hat. Die zusätzlichen Belastungen der Trauernden, die von den Kontaktverboten in der Sterbephase oder den Einschränkungen bei den Trauerfeiern betroffen sind, wirken sich auch auf die Begleitung der Angehörigen aus. Das lässt sich nicht aktiv ändern. Dennoch ist niemand dem Geschehen hilflos ausgeliefert. Gute Schutzkleidung ist die Grundlage. Der erhöhte Zeitbedarf für Abholung und Versorgung von Verstorbenen kann eingeplant werden. Das gemeinsame Gespräch über die eigenen Ängste und Handlungsmöglichkeiten schafft Solidarität, wenn es hart auf hart kommt.
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sollten ermutigt werden, ihre Pausen wirklich zu nehmen. Statt selbst immer mehr Druck aufzubauen, um in derselben Zeit und mit identischen Personaleinsatz genauso viel zu leisten wie in der Zeit vor Corona, geht es darum, die Entspannungsphasen aktiv zu gestalten.
Bei sich selbst anfangen
Der erste Schritt ist, bei sich selbst wahrzunehmen, wie Stress sich auswirkt. Welche Reaktionen bemerke ich bei mir selbst? Welche anderen Bedürfnisse nach Entspannung, nach Ruhe oder nach Bewegung habe ich? Wie kann ich die äußeren Stressfaktoren beeinflussen, welche Handlungsmöglichkeiten habe ich selbst und was können wir im Team tun, damit es dem Einzelnen gut geht. Welche Energien entstehen in der Stresssituation, und wie kann ich diese nutzen.
Einige Krankenkassen übernehmen inzwischen die Kosten für unterstützende Apps, die man auf dem Smartphone immer bei sich hat. Pausen und Freiräume kann jeder nutzen, um mit ihrer Unterstützung zu mehr Gelassenheit zu finden. Je nach Bedarf kann das eine Yoga-App sein, die das Bedürfnis nach Bewegung unterstützt, oder eine Meditations-App, um unter Anleitung wieder zu spüren, was im Moment bedeutsam ist.
Krisenzeiten lösen Stress aus. Bewegungs- und Kontaktbeschränkungen, wirtschaftliche Bedrohung und gesundheitliche Risiken lassen sich nicht wegdiskutieren. Doch niemand ist dem hilflos ausgeliefert. Es bleiben genug Handlungsmöglichkeiten, die aus der inneren Ohnmacht herausführen. Jeder kann sie nutzen, für sich selbst und für die gemeinsamen Aufgaben am Arbeitsplatz.